Die Ortschaft und der Apfelbach
Morgens um sieben Uhr wurden ich geweckt und nach der
üblichen Morgentoilette und einem deftigen Frühstück machte ich mich auf
den Schulweg.
Oberhalb des alten Rathauses, im Haus
am Mühlgraben, befand sich früher die evangelische Schule,
dahinter die Judenschule und im Schulgässel, in Zeitlers Haus,
die katholische Schule. Beim Bau der neuen Schule, soll ein Arbeiter
tödlich abgestürzt sein. |
Dieses Gebäude hat sich mir gut eingeprägt, denn darin hatte ich acht Jahre
meines Lebens verbracht. Am schönsten war das Ende des Schuljahres. Da gab es
immer eine Brezel für uns Kinder. Den einen zum Lob und den anderen,
die es nicht geschafft hatten, zum Trost.
Dies muss wohl schon vor
meiner Zeit Brauch gewesen sein, wie Rudolf Noehte so
schön in seinem Heftchen unter anderem beschreibt. (Geschichten von
Großsachsen 1931 - 1956. Dieses Heftchen wurde mir freundlicher Weise
von einer Bürgerin aus Großsachsen, Mitglied des Landfrauenvereins, zur
Verfügung gestellt und beschreibt Großsachsen aus einer anderen, mehr
statistischen Sicht mit vielen Familienchroniken. Sehr interessant und
lesenswert). Nach der Schule, wenn die Eltern mir endlich freigaben und alle
Hausarbeiten getan waren, war das Dorf mein Leben und mein Spielplatz. Der Apfelbach floss mitten durchs Dorf.
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Im Sommer badeten wir Kinder auch im Apfelbach oder wateten darin herum.
Stundenlang konnte ich am Bachufer sitzen und so manches Geheimnis der
Natur entdecken. Eines dieser Geheimnisse war für mich die
Fliegenschwärme. Es faszinierte mich, wenn ich so einen Schwarm
beobachtete, der sich, trotz großer Bemühungen, ihn zu verjagen, immer
wieder an derselben Stelle zu einer Art rituellen Tanz sammelte.
Ich versuchte zu ergründen, wer wohl das Kommando für das immer währende
Auf und Ab gab. Auch wenn neue Fliegen dazukamen, schlossen sie sich
diesem Rhythmus sofort an. Nach vielen Umfragen bei den Erwachsenen und
Lehrern, wieso das so sei, und vielen, immer unbefriedigenden Antworten,
meist mit dem Ausspruch „Hoscht kei annere Soorge?”, beschloss ich,
diesem Schwarm eine Art kollektives Bewusstsein zuzuschreiben. Warum
sonst waren immer alle im Gleichklang.
Unterhalb der Markthalle befand sich die Schließ, wie man es
nannte. Sie bestand aus zwei Betonposten, die rechts und links des
Bachufers eingelassen waren, wo man dann einige Bretter einsteckte und
so ungefähr in einer halben, dreiviertel Stunde eine Wassertiefe von
1,20 m bis 1,50 m erreichte. Diese Schließ wurde auch gleichzeitig als
Löschwasserreservoir benutzt.
Da der Apfelbach durch den gesamten Ort floss, hatte sich im Dorf ein
eigenes Ökosystem entwickelt.
Ich konnte zum Beispiel im Bachbett unheimlich viele Schmetterlinge,
Libellen und andere Insekten beobachten. Sogar Bachkrebse und Elritzen,
die sich nur in sehr sauberem und klarem Wasser halten können, gab es.
Man glaubt es kaum, auch Pfünder-Forellen waren keine Seltenheit, was
uns Kindern reizte, so manches dieser schönen Fische zu fangen. Auch
Stichlinge und Molche habe ich gefangen und mir zuhause mit viel Liebe
ein Aquarium im Hof angelegt.
Von großem Nutzen war mir dabei der Chemiebaukasten, den mir meine Tante
schenkte, als ich zehn Jahre alt war. Mit diesem Kasten konnte ich
jegliches Gewässer messen. So hatte ich bald nichts anderes zu tun, wie
jeden Brunnen und jedes Wässerlein in Großsachsen zu messen, natürlich
auch den Apfelbach. Ich kann mich noch gut erinnern, dass sein Wasser
einen Nitratwert von etwa 25 mg pro Liter hatte. Unser heutiges
Trinkwasser hat schon im Vergleich dazu schlechtere Werte. Die
Gesamthärte war etwa bei 15 Grad und der PH-Wert war stets neutral, also
bei 7.
Die Abwässer der Häuser, nicht die Fäkalien, sondern rein das Wasser aus
den Haushalten, liefen ins Gräbelchen und danach in den Bach.
Dorfbewohner, die den Bach zuviel verschmutzten, was selten vorkam,
wurden ermahnt, und bald war die Ordnung wieder hergestellt.
Der Bach war sehr bewachsen, es gab sehr lange Inseln, die mit bis zu
1,20 m hohem Gras bewachsen waren. Es gab sehr viele Enten, die morgens
ihren Bauernhof verließen und in den Bach gingen und abends wieder
herauskamen. Ich habe mich immer gewundert, wieso diese Enten immer
wieder nach Hause gefunden haben, und zwar jede zu ihrem Besitzer. Von
der B 3 bis hoch an die Lettengasse tummelten schätzungsweise bis zu
Hundert Enten in dem Apfelbach. Sie fraßen so ziemlich alles Organische,
was sie erwischen konnten. Wasserratten sah man selten.
Bei jedem Regen führte der Bach sehr viel Wasser, und sämtliche Abfälle,
die dann noch vorhanden waren, wurden mitgerissen und weggespült. Nach
jedem Regen war der Bach wieder relativ sauber.
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Aber nicht nur hier. Großen Anteil an der dörflichen
Kommunikation hatten auch die Brücken über dem Apfelbach, wo man
abends die Leute auf den Brückenmauern sitzen sah, um die Neuigkeiten
des Tages auszutauschen. Daher auch der Spitzname die „Brückendeckelhocker”. An den Bahnschlitten, der jeden Morgen im Winter durchs Ort fuhr
und den Schnee auf beiden Straßenseiten auftürmte, erinnere ich mich gerne. Man höre
und staune, in manchen Wintern war der Schnee bis zu 1,20 m hoch.
Ein beliebter Aufenthaltsort war auch die Spitzer’s Wies. Die
ganze Dorfjugend traf sich hier. Man konnte dort sehr gut Schlitten fahren. Es gab so
manche Stürze, Beulen und zerrissene Hosen, war aber das Vergnügen immer wert. Wer kennt noch das Rosengärtel, die Sandgrieb,
die Hinterbangerts-Gärte,
die Boin, den Ladeberjerweg,
den Milchhof, die Zimmermanns-Hohl
oder die Belz-Hohl,
die Dreckich-Gass, den Müllgrawe,
die Pferdsgass,
das Schulgässel, den Hönich,
den Milchbuckel
oder das Hergotts-Brünnele?
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